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Bioinformatik trifft Biodiversität: Die Tierwelt als Patchwork-Familie

08.10.2025

Seit 2024 leitet Michael Matschiner den Lehrstuhl für Systematische Zoologie an der LMU und ist Forschungsdirektor der Zoologischen Staatssammlung München.

Professor Michael Matschiner ist fasziniert von der spektakulären Vielfalt des Tierreichs, besonders die Wirbeltiere sind sein Spezialgebiet: Welche Arten gibt es? Wie sind sie miteinander verwandt? Wann sind sie entstanden und wie haben sie sich in der Vergangenheit aufgespalten? Fragen wie diesen geht Matschiner vor allem mithilfe genetischer und bioinformatischer Analysen auf den Grund.

Seit Dezember 2024 leitet er den Lehrstuhl für Systematische Zoologie an der LMU und ist neuer Forschungsdirektor der Zoologischen Staatssammlung München. Neben der bloßen Begeisterung für die Tierwelt weiß er auch um deren Bedeutung für die Menschheit: „Ohne Biodiversität könnten wir auf diesem Planeten nicht leben. Deshalb ist es entscheidend zu wissen, welche Arten es gibt und wie sie miteinander in Beziehung stehen.“

Prof. Dr. Michael Matschiner
© LC Productions/LMU

Antarktisfische: Eisige Vielfalt unter Wasser

Aktuell hat es ihm eine bestimmte Fischverwandtschaft besonders angetan: Antarktisfische. Fast alle Fischarten, die sich im Schelfmeer rund um den antarktischen Kontinent tummeln, gehören zu dieser Gruppe mit dem unaussprechlichen wissenschaftlichen Namen Notothenioidei. Sie trotzen der eisigen Kälte in der Antarktis mithilfe spezieller Gefrierschutz-Proteine in ihrem Blut – ein Beispiel für evolutionäre Konvergenz, denn ähnliche Proteine haben sich komplett unabhängig davon auch bei anderen Fischgruppen im Nordpolarmeer, am anderen Ende der Welt, entwickelt.

Die Antarktisfische sind vor nur zehn Millionen Jahren aus einer einzigen Stammart hervorgegangen. Diese explosionsartige Radiation hat das gesamte Ökosystem geprägt – und macht die Fische für Matschiners Forschung so interessant: „Wie die Darwin-Finken auf den Galápagos-Inseln haben die Antarktisfische unterschiedliche ökologische Nischen erobert: vom winzigen Planktonfresser bis zum zwei Meter langen Räuber.“ Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Italien, Chile und den USA hat Matschiner bisher rund 10.000 Proben gesammelt, 800 davon sind bereits sequenziert. Ziel ist, alle 110 bekannten Arten der Antarktisfische in den Datensatz einzubeziehen – um die Entstehungsgeschichte und Verwandtschaftsverhältnisse dieser einmaligen Gruppe umfassend zu entschlüsseln.

Stammbäume rekonstruieren mit DNA-Analyse und Bioinformatik

Während seines Studiums und bei seiner Doktorarbeit lag Matschiners Schwerpunkt noch mehr auf der Evolutionsbiologie. Später kamen zunehmend systematische Aspekte hinzu. Vor seinem Ruf an die LMU forschte er als Postdoc in Neuseeland und danach von 2013 bis 2017 in Oslo. Danach ging es in die Schweiz an die Universitäten Basel und Zürich für weitere Postdoc-Stationen und anschließend noch einmal zurück nach Norwegen, wo Matschiner als Associate Professor für Wirbeltier-Zoologie am Naturhistorischen Museum in Oslo tätig war. Seit Dezember 2024 ist Matschiner Professor an der LMU. „Ich kannte bereits Kolleginnen und Kollegen an der Fakultät für Biologie und wusste, dass hier exzellente Forschung gemacht wird.“ Insgesamt war es die Kombination aus dem renommierten Standort, dem Forschungsumfeld und den Möglichkeiten an der Zoologischen Staatssammlung, die ihn überzeugten, nach München zu kommen.
In Norwegen arbeitete Matschiner bereits intensiv an Verfahren zur DNA-basierten Rekonstruktion von Stammbäumen. „Die Methoden haben sich in den letzten Jahren stark weiterentwickelt, und ich war auch ein Stück weit an dieser Entwicklung beteiligt“, erklärt der Biologe. Die Verfahren sind sehr rechenintensiv, besonders weil im Verlauf der Zeit immer größere Datensätze analysiert wurden. „Früher sequenzierte man vielleicht ein einzelnes mitochondriales Gen, inzwischen vergleichen wir ganze Genome – und zwar nicht nur von einem Individuum pro Art, sondern von mehreren.“ Das liefere enorm viele Informationen, stelle aber auch hohe Anforderungen an die Bioinformatik und an die Rechenkapazitäten.

Hybridisierung: Wenn Artgrenzen verwischen

Die neuartigen Methoden ermöglichen heute einen völlig neuen Blick auf die Systematik der Tiere. Ein Beispiel: Hybridisierung spielt bei der Artentstehung wohl eine viel größere Rolle, als man bisher dachte. Lange galten Pferd und Esel als typisches Beispiel: Ihre Nachkommen – Maultiere und Mulis – sind steril, können sich also nicht fortpflanzen. „Genomische Daten zeigen aber inzwischen, dass viele Hybride in der Natur durchaus fruchtbar sind und genetische Informationen zwischen Arten ausgetauscht werden“, so Matschiner. Dieser Austausch kann auch dazu führen, dass Arten sich besser an neue Umweltbedingungen anpassen, und das wiederum kann theoretisch sogar zur Entstehung neuer Arten führen.
Die offenbar weit verbreitete Hybridisierung im Tierreich wirft Fragen darüber auf, wie scharf die Grenzen zwischen den Arten eigentlich verlaufen. „Was genau eine Art ist, wird nach wie vor heiß diskutiert.“ Würde man den strengen Artbegriff der 1980er-Jahre anwenden, gäbe es, so Matschiner, salopp gesagt plötzlich nur noch eine Handvoll Arten. Zum Beispiel müsste man dann viele Enten zu einer Art zusammenfassen, weil in dieser Gruppe so viel Hybridisierung stattfindet und die Grenzen verschwimmen. Bei den Möwen und zahlreichen anderen Tieren verhält es sich ähnlich. Damit das Artkonzept praktikabel bleibt, muss man es also flexibler fassen: Arten können stabile Einheiten sein, auch wenn an ihren Rändern genetischer Austausch in Form von Hybridisierung stattfindet. Das muss nicht dazu führen, dass sie miteinander verschmelzen – sie können trotzdem weiterhin als eigenständige Arten existieren.

22 Millionen zoologische Objekte

Während seiner Zeit am Naturhistorischen Museum in Oslo war Michael Matschiner verantwortlich für die Fischsammlung mit rund 10.000 Präparaten. In München ist er nun an der Zoologischen Staatssammlung tätig, die das gesamte Tierreich abdeckt – mit fast 22 Millionen Objekten ist die Münchner Einrichtung eine der größten naturkundlichen Forschungssammlungen der Welt.
An der LMU hat Matschiner ein spezielles Labor für die Analyse von Museumsproben eingerichtet. Dort kann DNA aus historischen Präparaten extrahiert und in Stammbaumanalysen integriert werden. Das eröffnet neue Möglichkeiten: „Wir können nun untersuchen, wie sich Artenvielfalt im Laufe der Zeit verändert hat.“ Genau hier liege der enorme Wert der Zoologischen Staatssammlung – mit ihren zahlreichen Objekten biete sie einzigartige Einblicke in die Geschichte der Biodiversität. „So können wir Veränderungen nachvollziehen und Prognosen für die Zukunft erstellen.“